Systemische Werte-Entwicklung Verstehen

„Das darf doch wohl nicht wahr sein“, „das ist aber schlicht unmöglich“, „Das soll mir mal jemand erklären“ sind Aussagen welche wir im Alltag immer wieder mal von uns geben oder/und von anderen hören. Wir sehen viele Entwicklungen welche wir uns nicht oder kaum erklären können, Vorgehensweisen woraus wir uns keinen Hehl machen können. Das Graves Modell[i] bietet eine „Roadmap“ um sich in der Wertelandschaft von Systemen besser zu orientieren. In der Arbeit mit Systemen (das innere Team, Gruppen, Unternehmen, Familien, Organisationen und ihrer Stakeholder) kann dieses Modell viele wichtige, manchmal bahnbrechende Erkenntnisse verschaffen.

Das Wertemodell nach Clare W. Graves, einem amerikanischen Psychologieprofessor (1914 – 1986) ist ein zentraler Bestandteil der Weiterbildung SystemCoach NLPA.  Clare W. Graves war ein Kollege von Abraham Maslow und sein Modell versteht sich ausdrücklich auch als eine Weiterentwicklung der maslowschen Bedürfnispyramide. Wie in der Bedürfnispyramide wächst auch im Graves Modell die Komplexität mit jedem Entwicklungsschritt.

Ein wertvolles und gleichzeitig heikles Modell

Es ist ein wertvolles und gleichzeitig ein heikles Modell. Wertvoll weil es Klarheit, Einsicht und Verständnis schaffen kann über die Entwicklung von Werten, Kulturen, Menschen und Systemen. Heikel weil es oft fälschlicherweise als hierarchisches Stufenmodell verstanden, erklärt und dargestellt wird (Vergleich Maslow Pyramide). Dadurch kommt es schnell einmal zu Haltungen von Überlegenheit und Arroganz (“Ich bin eine Ebene höher als du!”). Das Gravesmodell sollte jedoch eher als ein sequentielles Phasenmodell verstanden werden.

Im SystemCoach NLPA nutzen wir das Modell vor allem zur Diagnose und zum besseren Verständnis von Systemen. Es hilft bspw. neue Wege der Rapport-Bildung auf der Werte-Ebene zu erkennen: Im Sinne des Pacing ermöglicht uns das Graves Modell Menschen dort abzuholen wo sie momentan sind, bei Ihren Werten und der inneren Logik der sie folgen. Und beim Leading, hilft das Modell zu erkennen, was die bisherigen Schritte waren und wohin die nächsten Schritte geführt werden könnten. Dort wohin die Werte-Entwicklung gefördert werden möchte.

Das Graves Modell: Phasen der Entwicklung

Wenn Menschen ihren Fokus auf das reine Überleben richten (müssen), wird dies der ersten Phase des Modells zugeordnet. Diese Phase wird dann aktiviert wenn wir z.B. am Verhungern sind, wenn wir von schweren Katastrophen betroffen werden, in Krisen- und Kriegszeiten also, jedoch auch bei schweren Suchterkrankungen. Immer dann, wenn es um das nackte Überleben geht, dann muss Nahrung, oder das was wir als Nahrung empfinden, her. Im positiven Sinne aktivieren wir diese Stufe auch wenn wir uns um die Bedürfnisse unseres Körpers kümmern, Ernährung, Sexualität, Körperpflege. Lange verweilen Menschen in der Regel nicht ausschliesslich in dieser Phase, denn schon bald suchen sie die Gemeinschaft mit anderen.

Stammeskulturen: Sicherheit und Einordung

Auf die Phase, bei der es primär um das Überleben jedes Einzelnen geht, folgt die der Stammeskulturen. Die Menschen haben die Vorteile des Zusammenhalts entdeckt und organisieren sich in Clans, Familien mit Blutsverwandtschaft, Vereine, Zünfte usw. Der Einzelne ist hier dem Kollektiv untergeordnet. Mittels ‘Story Telling’ erklärt das Kollektiv auch die Welt ‘rundherum’ inklusive dem, was nicht verstanden wird. Geister, Götter, Magie und Symbole spielen dabei eine wichtige Rolle[ii].

Scham und Schuld sind wichtige „Waffen“ damit der „Clan“ intakt bleibt. Aus der Reihe tanzen wird nicht geschätzt, die Tradition, Rituale und klare Hierarchien (Dienstälteste) sind zentral. Gleichzeitig bietet die Gruppe viel Halt und Schutz und ist loyal solange man sich ein- und unterordnet. Genau diese Bedingung wird jedoch auf Dauer oft als zu einengend erfahren.

Macht und Herrschaft

Aus der Stammeskultur entwickelt sich das Bedürfnis Einzelner sich über andere zu erheben, mehr zu besitzen und mehr Macht zu haben um das Leben und vor allem die eigene Rolle darin besser kontrollieren und bewältigen zu können. In der Geschichte der Menschheit sehen wir wie Pharaonen, Stammesfürsten, Kaiser und Könige die Macht ergreifen und sich dabei gerne auf Götter berufen (Gottesgesandte). Es gibt Machtkämpfe und Eroberungskriege. Immer wenn ein Mensch sich erheben möchte, wird er die Macht in sich aktivieren, was zu Durchbruch, Ausbruch, Rebellion, Umwälzung, Selbstdarstellung und Egozentrizität führen kann. Das nimmt viele Formen an, schafft (Neu-)Raum und bringt Innovation, kann allerdings auch übergriffig und zerstörerisch sein.

Ordnung und Regeln

Daher schlägt das Pendel irgendwann um. Man hat die Willkür satt. Die Macht wird verteilt, wir suchen nach fairen Regeln, die Gruppe organisiert sich neu. Gesetze und Regelwerk geben Halt, lassen indessen auch das Beamtenwesen und die Bürokratie entstehen. Es entwickelt sich ein Wertesystem und eine Handlungslogik der Ordnung. Systematisch, geordnet, organisiert, verlässlich, fair, gesetzkonform. Verhaltenskodex, Normen und Prozessmanagement sind die Schlagwörter.

Leistung und Autonomie

In der Folge wird das Vorgehen, an bewährten Prinzipien festzuhalten vielen zu einseitig, zu träge und zu starr. Technologische Entwicklungen fordern ein neues Wertesystem, welches sich an Leistung orientiert. Individuelles Gewinnstreben, Profit, Effizienz, Entwicklungsfreiräume und wissenschaftliche Analysen statt Traditionen, geregelte Abläufe, fixe Protokolle und gefestigte Ordnung stehen im Vordergrund. Es wird fleissig gearbeitet, die Grenzen des Machbaren (und Fairen) werden laufend ausgelotet und Wertschöpfung ist gleich monetärer Wohlstand.

Gemeinschaft und Oekologie

Jedoch auch hierauf folgt eine Reaktion. Irgendwann entdecken wir, dass Arbeit und Geld verdienen nicht alles ist im Leben. Eine Handlungslogik der Gemeinschaft entsteht. Gemeinschaft wird hier jedoch nicht nur als Clan, Familie oder Nation verstanden sondern schliesst weit darüber hinaus alle Lebewesen und Elemente des Planeten mit ein. Begriffe wie Weltbürger werden eingeführt. Geografisch über die Grenzen hinaus zu denken, heisst auch ökologisch aktiv zu werden und die Erde als unser aller Zuhause zu betrachten. Toleranz, Beteiligung der Gruppen an Entscheidungsprozessen und Perspektivenvielfallt werden erkennbar. Selbst-Reflexion wird als wichtige Tugend gefordert und gefördert.

Flex-Flow: systemisch-perspektivisches Bewusstsein

Dadurch, dass sich die Komplexität in der Folge weiterer technologischer Entwicklungen enorm erhöht (Informationstechnologie, Biotechnologie, künstliche Intelligenz, Roboter, Algorithmen) wird die eher vereinfachte und singuläre Sicht der vorhergegangenen Phasen („so und nur so ist es richtig“) überholt. Systemische und multi-perspektivische Sichtweisen sind ab hier gefragt. „Flex-Flow“ beschreibt einen Zustand worin ein Mensch sich in einen Bewusstseinszustand versetzt in dem er gleichermassen präsent und flexibel ist, um auf die sich laufend verändernde Umgebung eingehen zu können. Das Ausmass und die Geschwindigkeit der Veränderungen sind dermassen, dass sämtliche Erwartungen über Konstanten losgelassen werden müssen. Dabei ist die systemische Vernetzung mittlerweile soweit fortgeschritten, dass Entscheidungen sich an der Nachhaltigkeit und am Wohl des Ganzen orientieren müssen.

Entwicklungen sind sprunghaft und bedürfnisgeleitet

Die Übergänge zwischen den Phasen (in alle Richtungen) werden jeweils von den äusseren Bedingungen (Ressourcen, soziopolitische Umstände, technologische Entwicklungen, geografische Gegebenheiten, psychosoziale Grundlagen) in Gang gesetzt. Ein Mensch kann in jeder der im Graves Modell beschriebenen Phasen seine Erfüllung finden. Keine Phase ist besser als die andere. Sowie ein Buch aus Silben, Lauten, Wörtern, Sätzen, Absätzen, Kapiteln und Teilen besteht. Die Komplexität von dem was vermittelt wird nimmt zu. Niemand kann jedoch behaupten, dass ein Satz hierarchisch höher einzustufen ist als ein Wort. Gleichwohl schreitet die Entwicklung voran und der Mensch muss jeweils andere Fähigkeiten entwickeln um mit der wachsenden Komplexität adäquat umgehen zu können.

Das Graves Modell als Roadmap einer komplexen Welt

Das Graves Modell[iii] bietet eine „Roadmap“ um sich in der Wertelandschaft von Systemen besser zu orientieren. In der Arbeit mit Systemen (das innere Team, Gruppen, Unternehmen, Familien, Organisationen und ihrer Stakeholder) kann dieses Modell viele wichtige, manchmal bahnbrechende Erkenntnisse verschaffen. Die wohl am meisten gehörten Rückmeldungen von SystemCoach TeilnehmerInnen zum Graves Modell sind, dass sie es bedauern nicht schon früher gelernt zu haben wie man dieses Modell einsetzt. Und, dass ihnen ‘die Schuppen von den Augen fielen’, als sie das Graves Modell in ihrer professionellen Arbeit mit dazu genommen haben. Mir ging es nicht anders. Daher begleite ich die Studierenden der Weiterbildung SystemCoach NLPA stets wieder mit Begeisterung in der Implementierung des Graves Modells in ihrem professionellen Alltag.

In einem weiteren Artikel werden wir näher eingehen auf die Anwendungsmöglichkeiten des Graves

Modells.

[i] Weitere vergleichbare Entwicklungsmodelle stammen u.a. von z.B. Anton Kohlberg, Jean Gebser, Erik Erickson und Carol Gilligan.

[ii] (Siehe auch: Der Mensch und seine Symbole von Carl Gustav Jung).