Coaching und der Anfängergeist

Coaching und der Anfängergeist (Beginner‘s mind)
Arpito Storms

Neulich las ich in einem Artikel über Coaching, dass Coaches besonders darauf achten sollten extrem aufmerksam zu sein, hervorragende Zuhörer zu sein, offene Fragen zu stellen, immer wertschätzend zu sein, das Individuum zu achten, in jedem Menschen seinen eigenen Meister zu sehen… und es geht noch weiter… geduldig zu sein, möglichst wenig oder spät ein eigenes Urteil zu bilden und, zu akzeptieren, dass das was kommt zur Zeit das Richtige ist…!?

Klarheit, Achtsamkeit, Empathie, Herzensbrücke, Wachsamkeit, Aufnahmefähigkeit, Offenheit und Flexibilität. Alles Eigenschaften, die als Coach von uns verlangt werden. Da könnte man ins Grübeln kommen und den Mut verlieren.

In diesem Spannungsfeld kann sich der sog. Anfängergeist als ein wertvolles Instrument für den Coach erweisen. In der Weiterbildung zum System-Coach empfehle ich die Aktivierung dieser Ressource sogar als eine Bedingung für die Arbeit mit systemischen Feldern.

Begriffsklärung

Anfängergeist, „beginners Mind“, als ob es das erstes Mal wäre. Jeden Augenblick offen und neu erleben, befreit von Gewohnheiten, Vorstellungen und vor allem auch Perfektionsansprüchen.

Im ZEN-Buddhismus wird ‘Anfängergeist’ auch das ‘Zeugebewusstsein’ genannt. Gemeint ist eine grundlegend offene Geisteshaltung, welche ganz neue Erkenntnisse und Sichtweisen im Leben ermöglicht. Etwas vereinfacht gesagt, geht es darum, dass man alles ohne Bewertung und Hintergedanken betrachtet.
Jean Gebser[1]spricht in diesem Fall von der a-perspektivischen Sicht.

Haltung

Es gilt hier eine Geisteshaltung zu entwickeln, als würden wir alles zum ersten Mal sehen oder hören. Man muss die Überzeugung loslassen, dass man schon weiss, wo es langgeht, langgehen sollte oder was am besten für einen ist.

„Im Anfängergeist gibt es viele Möglichkeiten, im Expertengeist nur wenige“
(Zenmeister Shunryu Suzuki)

Zugang

Zu dieser Haltung findet der Coach den Zugang indem er/sie:

  •  „im Hier und Jetzt sein“ als Devise nimmt – statt „dann und dort tun“.
  • Bewertungen und Etikettierungen bewusst wahrnimmt; die Dinge sind weder gut noch schlecht. Akzeptanz und Neugierde sind das Motto.
  • Den Impuls etwas zu verändern, zu vermeiden oder zu verbessern als solches zwar wahrnimmt, ihm jedoch nicht automatisch nachgibt.

Wirkung

Wenn wir als Coach so vorgehen, glauben wir nicht mehr unbedingt, dass das, was wir, der Kunde oder andere Beteiligte denken auch die (wirklich zutreffende) Wirklichkeit ist. Bewertungen und Meinungen sind dann eben Etiketten, Interpretationen. Der Effekt dieser Haltung wird von vielen Coaches als harmonisierend und befreiend beschrieben, eine entspannte Wachsamkeit mit erhöhter Aufnahmefähigkeit macht sich bemerkbar. Der intuitive Zugang ist frei und Übertragungen werden schneller wahrgenommen.

Nutzen und Transfer

Als System Coach ist der Anfängergeist unerlässlich, damit wir wachsam in die System-Felder eintreten und deren Sprache überhaupt wahrnehmen und verstehen lernen. System-Felder haben einen hohen Grad an Komplexität, es ist leicht, sich in Bewertungen, (Vor)Urteilen, Projektionen und Übertragungen zu verstricken und dem Impuls, etwas zu verändern oder zu optimieren zu schnell nachzugeben. Zu oft wurde die Lösung schon zum Problem. Als System-Coach ist es essentiell, den Anfängergeist während dem Coaching laufend zu aktivieren. Dies ermöglicht es, dem Kunden und seinem Anliegen neugierig und offen entgegenzutreten. Dies auch, wenn der Kunde stark verstrickt ist (assoziiert, identifiziert mit) seinem Anliegen und den damit verknüpften psychodynamischen und systemdynamischen Aspekten. Der Zustand ist also auch sehr hilfreich um Übertragungen im Coaching zu erkennen und, wenn wir uns aus möglichen Gegenübertragungen lösen wollen.

Der Anfängergeist im Alltag

Der Anfängergeist ist auch im Alltag oft äusserst hilfreich. Denn mit dem Anfängergeist sind alltägliche Geschehnisse kurzweiliger, interessanter und effektiver.Frei nach der Devise,  dass wir dem Leben vielleicht nicht mehr Tage geben, dem Tag jedoch sicher mehr Leben schenken können.

Zu dieser Haltung findet man im Alltag z.B. den Zugang, indem man die Identifikationen mit seinen Persönlichkeitsaspekten lockert und den Wahrnehmer/Beobachter als wertschätzende, wache Instanz kultiviert (die a-perspektivische Sicht). Wenn Menschen aus dem Zustand des Inneren Beobachters – der Essenz – berichten, ist das auch an der Sprache zu erkennen, weil sie weniger assoziert sind mit dem, wovon sie sprechen. Beispiel:

  • Assoziiert reagieren wir z.B. wütend; wir schimpfen, machen anderen oder uns  Vorwürfe usw. Beobachtend stellen wir fest wie Ärger hochsteigt, verhalten uns jedoch nicht verärgert sondern eher ruhig.
  • Assoziiert fühlen wir uns z.B. unzulänglich und verfallen in Lethargie. Beobachtend nehmen wir wahr, wie eine Überzeugung sich breit macht, die z.B. behauptet „Ich kann das nicht.”, lassen uns in unserem Verhalten jedoch dadurch nicht beeinträchtigen.
  • Identifiziert schämen wir uns z.B. und vermeiden es uns in der Öffentlichkeit zu zeigen, während im beobachtenden Zustand vielleicht ein Gedanke wie “Hmm, da ist diese Idee, dass ich nicht ok wäre” entsteht.

Ich weiss, wenn man dies so zur Kenntnis nimmt,  mag einem das schwierig oder kompliziert erscheinen. Mein Vorschlag: Gehe doch einfach einmal spasseshalber davon aus, dass heute DER TAG sein könnte, bei dem das passiert, was du dir erträumst. Das kann sehr unterstützend sein bei der Umsetzung des Anfängergeistes.Du wirst auch bei deinen Mitmenschen neue Elemente bemerken, wenn du ihnen immer wieder aufs Neue, offen und mit Neugierde gegenübertrittst. Schaue, was dir in diesem Geist alles passiert. Mit Sicherheit werden dir bei den banalsten Dingen völlig neue und interessante Aspekte begegnen, wenn du diese ohne deine gewohnten Meinungen, Beurteilungen oder Gewohnheiten erleben kannst.

 

Anfängergeist und NLP

Wenn man sich in der NLP Szene bezüglich Weiterentwicklungen und Innovationen umhört, stösst man früher oder später auf die Arbeiten bezüglich der sog. „Meta-States“ von L. Michael Hall[2]. Er beschreibt damit die Befindlichkeiten in Bezug auf erlebte Zustände. Die Frage, die man sich dabei stellt lautet z.B.: „Was ist meine Haltung bezüglich Zustand X?“. Jemand der z.B gerne Gruselfilme schaut, tut das wahrscheinlich weil  er/sie Angstzustände unterhaltsam findet und Spass daran hat. Der Meta-Zustand/Haltung bezüglich Angstzuständen wäre dann wahrscheinlich Spass. L. Michael Hall beschreibt sein Konzept ausführlich in seinen zahlreichen Büchern.
Im Bezug auf den Anfängergeist während Coaching könnte man sich demzufolge fragen, was der Meta-Zustand bezüglich Wahrnehmung oder Achtsamkeit im Verlauf eines Coachings ist. Wenn dann Ausdrücke wie: schwierig, angespannt, überfordert oder verwirrt auftauchen, wird das in der Regel einen negativen Einfluss auf den Coachingverlauf haben. Zur Unterstützung kann man  in einem solchen Fall den Meta-Zustand von Neugierde und Staunen hervorrufen (Vergleich „Anfängergeist“).

Auch die „Core-State“ (Kern-Zustand) Arbeit[3] von Connirae und Tamara Andreas kann das Erleben des Anfängergeistes herbeiführen.

Hintergründe

In seinem Buch mit dem spannenden Titel: „Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher“, schreibt der Hirnforscher Gerald Hüther[4]:  “Nicht das viele Wissen, nicht die auswendig gelernten Lehrsätze, sondern die Vorstellungen, die inneren Überzeugungen, die Welt- und Menschenbilder, mit denen wir herumlaufen, bestimmen unser Denken und Handeln.”

Laut Deepak Chopra[5] existiert der Anfängergeist von Natur aus in dem, was ungewiss ist; wo alles offen ist. Das Alltagsbewusstsein jedoch sucht laufend die Sicherheit. Aus hirnphysiologischer Sicht ist das Reptilienhirn (Stammhirn) verantwortlich für unsere laufende Suche nach Sicherheit. Wir brauchen jedoch unser Reptilienhirn – und hier ist der Clou – im Wesen nur während konkreten, lebensbedrohlichen Situationen, und nicht während imaginierten Situationen. Wenn wir also nicht wachsam sind und die imaginierten bedrohlichen Situationen nicht als Imaginationen erkennen und entlarven, „zwingt“ das Reptilienhirn uns laufend in einen Überlebensmodus: wir schotten uns ab, engen den Geist ein und reduzieren uns auf die Instinkte; Flucht oder Angriff. Genau das Gegenstück vom Anfängergeist, wo es um Offenheit und eine einladende Haltung geht.

Kurzanleitung

Eine kleine Struktur, um aus den oft zwanghaften Impulsen des Stammhirns  auszusteigen ist folgende:

  • Plötzlich anhalten, Stopp / time out.
  • Den aktuellen Zustand wahrnehmen (Body-Scan).
  • Aussteigen, entkoppeln, verlasse diesen Zustand (Leer machen).
  • Den Geist reinigen, indem du eine Weile bewusste und entspannte  Bauchatmung machst.
  • Erweitere dein Bewusstsein, mache dir bewusst, dass dein Bewusstsein viel grösser ist als dein Körper.
  • Spüre die Wirkung davon und den Zustand, der dadurch erzeugt wird (ist es Frieden, Stille, innere Wärme, …..?).
  • Merke und verankere den Zustand (Body-Scan). Dies ermöglicht dir in Zukunft einen leichteren Zugang.
  • Selbstreflektion. Notiere anschliessend die Wirkung dieses Wechsels auf dich und den Selbstanker (Bild? Gefühl? Ton?).

 



[1] Ein Zeitgenosse und Freund von C.G. Jung. Als Vertreter der Integralen Theorie strebte er schon Mitte letzten Jahrhunderts danach, wissenschaftliche und spirituelle Erkenntnisse zu verbinden.

[2] L. Michael Hall, NLP Lehrtrainer und Autor von u.a.: „Secrets of personal mastery“

[3] NLP Master; ProzessAnalyse & Coaching, Teil D

[4] Gerald Hüther ist Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, Präsident der Sinn-Stiftung (www.sinn-stiftung.eu) und Autor zahlreicher Bestseller

[5] Amerikanischer Arzt indischen Ursprungs und Forscher im Bereich Mediation, Wellness usw. Autor zahlreicher Bücher.